6.7.2015 Honningsvåg und Nordkap

Wir fahren weiter an der norwegischen Küste entlang. Bei schönem Wetter können wir die unzähligen Berge der Küste bewundern. Bis wir schließlich zu einer schon von Weitem ganz besonders hervorstechenden Klippe kommen: gegen 14:00 Uhr passieren wir die Nordkap - Klippe und erhalten einen ersten Eindruck von dem, was wir später auch noch von der Nähe erleben werden. Die Sicht ist klar und wir sehen die Weltkugel und die Besucher des Nordkaps gut vom Meer aus - immerhin knapp 300 Meter über uns.

 

Das Nordkap vom Meer aus gesehen.
Das Nordkap vom Meer aus gesehen.

Wir nehmen den Lotsen auf und nähern uns noch mehr der Küste. Die Häuser eines kleinen Dorfes sind zu erkennen. Wir nehmen Kurs auf die Bucht von Honningsvåg auf, das wir bald sehen können. Das kleine Städtchen ist eingerahmt von kargen Bergen und Hügeln - die einzigen Bäume, die ich sehe, sind die, die wohl extra auf einem kleinen Stückchen Hang zum Lawinenschutz angepflanzt wurden. Ansonsten  nur steinige und mit einem kleinen Flaum Grün bedeckte Erde. Das ist sehr gewöhnungsbedürftig - und wir werden diese karge Landschaft gleich noch näher kennen lernen.

Erster Blick auf  Honningsvåg
Erster Blick auf Honningsvåg

 

 

 

 

 

Honningsvåg, in der Mitte des Bildes der kleine Lawinen-Schutzwald - die einzigen Bäume weit und breit

 


Wieder liegen wir in einem Tenderhafen. Wie auch das letzte Mal in Geiranger funktioniert der Tenderverkehr zum Hafen perfekt. Manfred und ich laufen zu unserem Bus, der uns zum 34 Kilometer entfernten Nordkap bringen wird.

 

Die Fahrt wird bereits zum Erlebnis: nach einem kurzen Anstieg erschließt sich uns die Hochebene der Insel Magerøya wie eine Mondlandschaft, die überhaupt kein Ende zu nehmen scheint. Hier und da haben sich weiße Schneeflecken noch vom Winter gehalten. Manchmal durchzieht ein Graben dieses Ödland und lenkt den Blick  auf einen Wildbach oder einen See. Nur selten begegnet uns auf der kleinen Straße ein Auto, doch tatsächlich kämpfen hin und wieder ein paar Radfahrer mit dem Wind.

 

Da entdecken wir sie: die Rentiere. Unser Busfahrer erklärt uns, dass die Rentiere der Samen sich hier im kurzen Sommer Fett anfressen, so dass sie am Ende das Sommers so kräftig sind, dass sie die ca. 1 1/2 Kilometer zurück ins Winterquartier schwimmen können! Wir sehen sogar mehrere Herden, auch mit vielen Jungtieren. Unvorstellbar, wie sie auf diesen mageren Wiesen satt werden und sich sogar noch für den Rückweg und die Überwinterung stärken könne.



 

Das Volk der Samen

Die Samen (nicht so gerne auch "Lappen") sind die Ureinwohner Nordskandinaviens. Hier hat sich ihre Kultur seit der Ankunft der ersten Menschen vor 11.000 Jahren entwickelt. Die Samen leben in Einklang mit der Natur. Sie lebten früher in Zelten bzw. Torfhütten, während sie dem Zug der Rentiere folgten.

Ihre Kultur war lange Zeit vom Untergang bedroht, und die Samen hatten mit Repressalien zu kämpfen. Heute ist es ein Volk mit einer eigenen Flagge und einem unabhängigen Parlament. Probleme gibt es immer dann, wenn die Staaten in die Natur eingreifen, z.B. schloss 2003 die EU mit Norwegen einen Vertrag zur Verwertung der Bodenschätze in der Finnmark ohne Beteiligung der Samen.

Das Volk der Samen lebt heute in einem Gebiet, das sich von Jämtlands Län in Schweden über Nordnorwegen und Finnland bis zur Halbinsel Kola in Russland erstreckt. Hier leben etwa 100.000 Samen, die Hälfte von ihnen in Norwegen. Ca. 60 % der Samen haben ganz "normale" moderne Berufe. Nur ca. 15 % leben alleine von der Rentierzucht. Trotzdem sind noch zwei Drittel aller Samen in irgendeiner Weise mit der Rentierwirtschaft sehr verbunden, welche Fleisch und Fell nutzen und die Tiere zum Transport verwenden.




Es gibt hier oben sogar ein Scandic Hotel und einen Campingplatz. Ich finde diese Gegend wirklich beeindruckend - aber ob ich hier tagelang meine Ferien verbringen wollte? Ich glaube eher nicht. Zum Baden in den klaren Seen ist es mit Sicherheit zu kalt (also mir jedenfalls) - und das Wandern zieht sich wohl sehr in die Länge immer gegen den Wind und mit der Einsamkeit.


 

 

 

 

Hübsche Häuser an einem kalten See inmitten karger, steiniger Berge.

 

Die Farbe Grün nicht sehr verschwenderisch ...

Am Nordkap angekommen besuchen Manfred und ich zuerst einmal natürlich die Weltkugel und machen ein "Selfie" zur Erinnerung.

 

1978 wurde der Globus errichtet als "Symbol des globalen Treffpunkts auf dem Nordkap. Hier treffen sich Menschen aus der ganzen Welt und teilen das Erlebnis von Größe und Schönheit des Nordkaps" (so jedenfalls die Begründung).


 

 

Das ist sie also - die Weltkugel -

jetzt aus der Nähe.

Dass das Nordkap (71° 10′ 16″N) eigentlich nicht der nördlichste Punkt des europäischen Festlandes ist - wie beworben - hat sich ja inzwischen herumgesprochen. Da gibt es nämlich noch die Landzunge Knivskjellodden, an der wir vorhin mit dem Schiff vorbeigeschippert sind, die ein bisschen nördlicher ist.

 

Und außerdem steht die Nordkapklippe auf einer Insel, der Insel Magerøya, und ist damit genau genommen also kein Festland auch wenn inzwischen das Nordkaptunnel die Insel mit dem Festland verbindet. Der wirklich nördlichste Punkt des europäischen Festlandes ist nämlich der Punkt Kinnarodden zwei Fjorde weiter östlich auf der Nordkinnhalbinsel gelegen und äußerst schwierig nach einer mehrstündigen Wanderung über Stock und Stein zu erreichen bei

71° 07′ 57″ nördlicher Breite.

 

Aber sehen wir jetzt mal über diese "kleinen Ungereimtheiten" hinweg und genießen es einfach am Nordkap zu stehen, an dem schon 1664 der erste Tourist Francesco Negri, ein Priester aus Ravenna, gestanden haben soll. Auf seiner Reise soll er übrigens alleine gewesen sein, was wir heute Abend nicht von uns behaupten können.

 Manfred versucht den Globus in besonderem Licht zu verewigen. So laufe ich schon los über das Plateau, genieße faszinierende Ausblicke aufs Meer und in verschiedene Fjorde, in die die Felsen fast senkrecht abfallen.


Aber auch die kleinen Sachen schau ich mir an, was blüht denn hier? Ich sehe rosa Blumenpolster, ganz kleine Löwenzahnblüten und beigefarbene Blütchen. Ich finde auch schöne Steine, von denen ich drei mitnehme (Steine vom Nordkap, die fehlen auf alle Fälle in meiner Sammlung:)

 

Polarlöwenzahn
Polarlöwenzahn

 

 

 

Besuch von einem Rentier


Schnell werden noch fünf Karten geschrieben und in den Nordkap-Briefkasten gesteckt. Das gehört einfach zu einem Besuch am Nordkap dazu.

 

Unterwegs:

Freistehendes Einfamilienhaus mit Garten

 

(Zaun drum herum und fertig ist der Garten)

 


Der Bus bringt uns wieder zurück nach Honningsvåg. Manfred möchte zurück aufs Schiff, aber ich beginne einen Rundgang durch das Dorf.

 

Was für ein Ort - dieses Honningsvåg! Er macht für mich einen so trostlosen Eindruck. Abblätternde Hausfassaden, keine Gärten, drei Stiefmütterchen in einem Blumentrog sind das einzig "Zierende" auf dem "Dorfplatz".


 

Café Corner

 

 

Die Hauptstraße. Hier gibt es sogar Parkscheinautomaten!

Vielleicht liegt es ja an der Uhrzeit, dass ich keine Menschen sehe, es ist ca. 20:30 Uhr an einem Montag Abend.

 

 

Im "Vinmonopolet" gibt es Alkoholisches zu kaufen. Es ist das nationale Monopol für den Verkauf alkoholischer Getränke mit einem Alkoholgehalt von mehr als 4,75 Volumen-%. Gibt es aber auch in Schweden, Finnland, Island und auf den Färöern.

 


Ich finde sogar eine "Gärtnerei": auf einem Wagen hinter einem Haus sind Stiefmütterchen, Geranien und Fuchsien vereint und warten darauf einen kurzen Sommer über blühen zu dürfen. Auch Blumenerde liegt daneben. Nun müssten die Blumen natürlich auch eingepflanzt werden. Bei mir liegt die Vermutung nahe, dass den Menschen hier nicht so viel liegt an blumengeschmückten Fassaden oder Gärten. Vielleicht ist die Zeit einfach zu kurz und sicher haben sie sich an diese Kargheit gewöhnt. Blühendes gehört dann wohl eher nicht zu dem, was man vermisst.

 

           

                  Lasst die Blumen frei !

 

 

 Im Hafen liegen viele Boote, die alle einen gepflegteren Eindruck machen als die Häuser (Boote gehören auf jeden Fall, zu dem was man vermissen würde!!).  Fisch hängt zum Trocknen auf einem Balkon. Das Haus, welches wirklich liebevoll dekoriert ist, ist das "Kulturhaus" von Honningsvåg. Hier werden laut Anschlag Kinofilme gezeigt und es gibt ein Café.


 

Schöner Hafen

 

 

 

Das schmucke Kulturhaus mit Kino

und Café und ein bisschen Kunst

 

Der Radfahrer aus Badelatschen erinnert an das Artic Race auf Norway 2014 - 

das nördlichste Straßenradrennen der Welt ging letztes Jahr durch Honningsvåg.


 

Wie an keinem anderen Ort, an dem ich je war, interessieren mich die Menschen, die hier leben. Leider kann ich nicht einfach jemanden ansprechen und fragen "Wie lebt es sich hier an diesem kalten und kargen Ende der Welt?" Erstens sehe ich so gut wie niemanden auf den Straßen und zweitens würde ich mich das auch gar nicht trauen (meine Norwegisch-Kenntnisse enden außerdem bereits beim "Ja", "Nei", "Takk" und "Takk for maten" - da kommt man mit tiefgehenden Themen nicht so weit...)

 

 

Die Menschen, die hier leben sind wohl damit ganz zufrieden, sonst wären sie ja weggegangen. Oder? - Geht das mit dem Weggehen so einfach? Bleibt man, weil man hierher geboren wurde? Ich muss nach Literatur suchen. Vielleicht finde ich ja die eine oder andere Antwort auf meine Fragen. Zumindest habe ich gelesen, dass Norweger sehr stolz auf ihre Heimat sind, insbesondere auf die Schönheit ihrer Natur. Sicher ist das ja hier auch so. Was ist schon "schön"? Das ist doch letztendlich relativ.

 

 

Schließlich mache ich mich auf zu meinem Tenderboot und lasse dieses Städtchen zurück, wohl wissend, dass mein Drang, nochmals hierher zu kommen gering ist. Am Nordkap habe ich gestanden und 300 Meter unter mir die schäumenden Wellen an die Felsen klatschen gehört. Das war toll und ich bin dankbar dafür, dass ich das erlebt habe.

Honningsvåg durchstreift und im Bild festgehalten habe ich auch, weil es eine ganz eigene, merkwürdig zurückhaltende Ausstrahlung hat.

 

Aber zurückkommen, an einen Ort, an dem im Juli nur ein paar magere Stiefmütterchen im Kasten blühen - nein, das brauche ich wohl nicht mehr.


Bei meinen Studien zu Hause lese ich, dass sämtliche Häuser auf der Insel Magerøya und damit auch von Honningsvåg am Ende des 2. Weltkriegs von der deutschen Wehrmacht während ihres Rückzugs aus der Finnmark vollständig zerstört wurden (Politik der verbrannten Erde).

Völlig sinnlos - der Krieg war längst verloren.


Als im Sommer 1945 die Bewohner in den Ort zurückkehrten stellten sie fassungslos fest, dass nur noch ihre Kirche stand. Diese wurde dann jahrelang zur Unterkunft für mehrere hundert Menschen. Bis 1960 dauerte der komplette Wiederaufbau von Häusern und Straßen in Honningsvåg.

 

Wie wäre mein Blick gewesen hätte ich das vorher gewusst? Wie tief sitzt noch der Schmerz in den Menschen die auf so grausame Weise ihr zu Hause verloren hatten? Was wissen und spüren ihre Kinder und Enkelkinder noch davon?

 

Möchte ich nicht doch nochmals nach Honningsvåg - und mit anderen Augen durch die trostlosen Straßen laufen?

 

Abwarten
Abwarten